Unsere Autorin Anahita ist leidenschaftliche Camperin. Mit Van, Partner und Rollstuhl geht sie in Deutschland…

Mutmachgeschichten aus dem Campingalltag: Unterwegs mit einem Sohn mit Behinderung
Wenn Michael auf dem Campingplatz im Sandkasten sitzt, ist er ein Kind von vielen. Seine Behinderung fällt auf den ersten Blick kaum auf. Im Alter von 7 Jahren erleidet er bei einem Verkehrsunfalls ein schweres Schädel-Hirn-Trauma – und seither ist für ihn und Mutter Marcella nichts mehr, wie es war. Dass das Leben (und Campen) trotzdem nicht vorbei ist, zeigt die Geschichte von Marcella und Michael. Für unsere Serie „Reisen und Campen mit Behinderung” erzählen die beiden, wie sie ihren Campingalltag und seine Herausforderungen meistern.
Inhaltsverzeichnis
Umgang mit den Mitcampern
Auf den ersten Blick sieht man Michael seine Behinderung nicht an – doch sein Sozialverhalten weicht von dem gesunder Kindern etwas ab. Wenn er sich nicht so verhält, wie andere es erwarten und die ersten irritierten Blicke folgen, schreitet Marcella ein.
„Dann erkläre ich, dass mein Sohn behindert ist, und das Wort ‚behindert‘ benutze ich auch ganz bewusst. Da gibt es nichts zu beschönigen. Es ist wie es ist“, erzählt mir Marcella während unseres Telefonats. Marcella wünscht sich, ganz normal behandelt zu werden. Doch oftmals geschieht dies erst beim zweiten Aufeinandertreffen.
Wenn die Mitcamper sehen und erleben, wie offen und unaufgeregt Marcella mit ihrem zehnjährigen Sohn trotz Behinderung umgeht, mit ihm ebenso schimpft wie andere Eltern mit ihren Kindern, dann tritt meist so etwas wie Normalität ein. Und die ersten vorsichtigen Fragen werden gestellt. So stellt sich schnell eine unverfängliche Atmosphäre ein und die Menschen um sie herum entspannen sich ebenfalls.
Die Vorgeschichte
Auf den Verkehrsunfall, bei dem Michael schwere Kopfverletzungen erlitt, folgt eine halbseitige Lähmung. Von einer Sekunde auf die andere verändert sich Marcellas Leben um 180 Grad. Eine schwere Zeit mit viel Hoffen und Bangen liegt vor ihr. Michael kämpft und macht Stück für Stück kleine Fortschritte, so dass nach zehn Monaten endlich ein Ende des Krankenhausaufenthaltes in Sicht ist.
Nach den langen Monaten im Krankenhaus ist die Sehnsucht nach Ruhe und einem selbstbestimmten Leben groß. Schon von Kindheit an steckt in Marcella die Leidenschaft für die Natur und das Draußensein. Sie war immer viel unterwegs und nahm bereits in jungen Jahren an Jugendcamps teil, wo ihre Liebe zum Camping entstand.
Herausforderungen im Alltag
Die nächsten Herausforderungen für Marcella stehen an: Eine neue Wohnung und ein größeres Auto müssen her – rollstuhlgerecht. Ein Leben ohne Rollstuhl ist zu dieser Zeit noch lange nicht in Sicht. In der schweren Zeit wird sie von ihrer Familie und Freunden unterstützt. Sie lernt, in ihrem neuen Alltag mit Michael Fuß zu fassen.
Entgegen dem Rat der Freunde kauft sie sich einen weißen Mercedes Vario 815 – 15 Jahre alt, „verranzt und buckelig“, wie sie verschmitzt gesteht. Bereits einen Monat später beginnt sie mit einem Kurs in der Fahrschule, um einen entsprechenden Führerschein für den 7,5-Tonner zu machen. Stolz hält sie den Schein wenige Monate später in den Händen, nachdem sie die Prüfung gleich nach dem ersten Versuch bestanden hat. Ende des Jahres informiert sich Marcella im Internet, schnappt sich zwei Freunde und startet das Projekt „Dumbo“.
Selbstausbau eines Campers
Trotz der Ungewissheit, was die Zukunft bringen wird, stürzt Marcella sich voller Elan in den Selbstausbau des Campers und kann die erste Campingtour kaum erwarten. Innerhalb von zwei Jahren baut sie gemeinsam mit Freunden den Bus aus.
„Zugunsten der Bewegungsfreiheit sowie des Rollstuhls und des Behindertenfahrrads habe ich bewusst auf Toilette und Bad verzichtet. Mein Plan ist, diese Einrichtungen an Rasthöfen und Campingplätzen zu benutzen. Wir haben aber ein kleines Waschbecken mit fließendem Wasser für Katzenwäsche und Zähneputzen“, berichtet Marcella mir.
Zu Beginn ist der Ausbau zunächst an einen Rollstuhl angepasst. Da Michael sich inzwischen schon wieder relativ gut bewegen kann, kann einiges spontan umgeplant werden. So reicht jetzt einen Höckerchen für Marcellas Sohn aus, um den Bus zu betreten. Michael ist ganz begeistert von dem Bus und freut sich ebenfalls auf die kommenden Touren mit dem schönen Dumbo.
Das Bett ist extra niedrig gebaut, so dass er sich alleine hinlegen kann. Dementsprechend ist kein Stauraum unter dem Bett möglich und es müssen alternative Plätze dafür gefunden werden. Ebenso werden Schubladen und Regale für Michael möglichst weit unten eingeplant, so dass er ohne Probleme und selbstständig an seine Sachen kommt.
Schon zu Beginn entscheidet sich Marcella für einen Klapptisch, um diesen Platz während der Fahrt für den Rollstuhl nutzen zu können. Nun bleibt der Rollstuhl zwar zu Hause, der Klapptisch aber hat sich bewährt, denn auf diese Weise ist ausreichend Platz für Michaels behindertengerechtes Fahrrad.
„Die Elektronik ist gemacht und bald kann ich Dumbo endlich anmelden“, berichtet Marcella stolz und voller Vorfreude.
Kurze Auszeiten auf einem Campingplatz
„Gerade nach dem langen Aufenthalt im Krankenhaus hatte ich das Gefühl „Ich muss raus“. Alleine, wenn jemand an die Tür geklopft hat, rief das bei mit schon Aggressionen hervor“, verrät mir Marcella.
Um mal rauszukommen, nutzen Marcella und Michael zwischenzeitlich einen Wohnwagen und ein Segelboot auf einem Dauercampingplatz. Dieser Platz liegt etwa 60 Kilometer vom Wohnort entfernt und dient dazu, einfach mal einen Tapetenwechsel zu haben, ein wenig zur Ruhe zu kommen und die Natur zu genießen. Das geht hier besonders gut, denn der Campingplatz grenzt direkt an einen Wald und einen See, an dem auch das Segelboot liegt.
In dem freistehenden Wohnwagen gibt es fließendes Wasser, Strom über eine Solaranlage, eine Kochmöglichkeit und einen Grill. Obwohl alles sehr einfach gehalten ist, bezeichnet Marcella das Camping dort, als „recht komfortabel.“
Anforderungen an Campingplätze
Marcella hat in den letzten Jahren verschiedene Phasen der Behinderung mitgemacht. Zu Beginn war Michael komplett auf ihre Hilfe angewiesen, danach fand er langsam in seinen Alltag mit Rollstuhl hinein, inzwischen kann er sein Bein sogar mit Orthesen bewegen und sogar wieder laufen. Aus den ersten beiden Phasen hat sie viel gelernt: „Barrierefreie Campingplätze sind sehr wichtig, vor allem für Rollstuhlfahrer“, sagt sie mir.
„So schön naturbelassene Stellplätze sind, so unpraktisch können sie auch sein – denn einen Rollstuhl beispielsweise über Schotterwege zu schieben, ist dort sehr schwer und für einen Rollstuhlfahrer alleine das praktisch unmöglich. Für bestimmte Rollstühle ist es bereits ein Hindernis von einem Zentimeter eine riesengroße Hürde und der Rollstuhlfahrer ist immer auf Hilfe angewiesen.“, ergänzt sie.
Auch auf den Sanitäranlagen liegt besonderes Augenmerk: Diese müssen nicht nur barrierefrei sein, sondern unbedingt auch viel Platz bieten. Denn Marcella als Mutter muss schließlich mit reinpassen und sich dort ebenso duschen und fertig machen können wie ihr Sohn. Sie könne Michael in der Zwischenzeit ja schlecht am Camper anbinden, sagt sie halb im Spaß und halb im Ernst. Die Sanitäranlagen sollten auch in jedem Fall abschließbar sein, denn nicht jeder Mensch mit Handicap geht mit seiner Behinderung offen um und möchte dementsprechend nicht von anderen in seiner Intimsphäre gestört werden.
„Die Sanitäranlagen auf unserem Dauercampingplatz sind nicht behindertengerecht, aber Michael kann mit mir in die Damenduschen. Dort kann ich ihm assistieren und auch selbst gleichzeitig duschen. Wenn Damen oder junge Mädchen in dieser Zeit kommen, dann erkläre ich kurz warum ein so großer Junge hier drin ist. Bislang hat nur einmal eine Dame ihren Unmut geäußert. Alle anderen haben sogar gerne kurz gewartet um meinem Sohn notwendige Privatsphäre zu ermöglichen“, berichtet Marcella.
Freiheiten auf dem Campingplatz
Auch Michael liebt das Camping, spielt und schwimmt gerne. Mit anderen Kindern ist er allerdings noch sehr schüchtern. Dazu erzählt mir Marcella: „Er würde gerne, ist sich aber oft unsicher und schämt sich. Er hat auch meistens Scheu, weil andere gesunde Kinder einfach rumrennen, kicken, klettern und schnell sind. Da bleibt er auf der Strecke. Von alleine geht er eigentlich nie auf Kinder zu. Aber ich versuche oft, ein anderes Kind zum Beispiel zum Sandbuddeln einzuladen, frage ob es unsere Nachbarburg bauen möchte. Dann kommt meistens für eine kurze Zeit ein Kontakt zustande. Echte Freunde hat er aber leider noch nicht gefunden.“
Aber auf dem Campingplatz genießt Michael ganz andere Freiheiten als zuhause. Hier kann er mal alleine mit dem Hund in den angrenzenden Wald, was ihn immer ganz stolz macht. „Auch Alltagsdinge kann er auf dem Platz viel besser erledigen und generell vieles ausprobieren und mal selbständig machen, was zuhause in der Stadt nicht möglich ist. Auf dem Campingplatz fahren keine Autos, die Menschen sind offener und zur Not wissen die meisten, wo er hingehört“, erzählt mir Marcella.
Michaels Gesundheit ist zum Glück wieder soweit stabile und die Genesung schreitet gut voran, so dass Marcella zuversichtlich auf ihre zukünftigen Campingtouren mit ihrem Sohn und Dumbo blicken kann. Und eines ist sicher: Dieses Mutter-Sohn-Team lässt sich durch keine Behinderung der Welt aufhalten!
Ich danke Marcella ganz herzlich für ihre Herzlichkeit und den so offenen Einblick in ihr Leben. Ich wünsche den beiden ganz viel Spaß mit ihrem Bus und alles erdenklich Gute für die Zukunft.
Fotos: (c) Marcella & Pixabay

Liebt das Reisen, Schreiben und Fotografieren. Sie reist mit Partner und Tochter bevorzugt im Wohnmobil.
Lieblingsspots: Kanada & Norwegen.
Super Artikel. Wir fahren mit unserem 11 jährigen Sohn (er ist seit 9 Jahren im Wachkoma) und unserer gesunden 7 jährigen Tochter auch am liebsten mit dem Wohnwagen weg. Es gibt keine schöneren Momente. ?
Macht weiter so