Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vor wenigen Tagen hat Aufsehen erregt: In einem Verfahren gegen Mercedes-Benz wurde entschieden, dass Käufer von Dieselfahrzeugen mit nachweislich unzulässigem Thermofenster bereits bei „einfacher Fahrlässigkeit des Herstellers“ Anspruch auf Schadenersatz geltend machen könnten. Bislang war „vorsätzliche sittenwidrige Schädigung“ Voraussetzung für eine Klage.
Wieder mal viel Juristendeutsch – doch was bedeutet das in der Praxis für den Wohnmobil-Dieselskandal im Allgemeinen und für die einzelnen Wohnmobilbesitzer:innen im Besonderen (im Verfahren ging es ja konkret um einen Mercedes)? Was hat sich jetzt geändert? Sollte man nun Klage einreichen oder doch noch abwarten? Und sind damit auch andere Fahrzeuge bzw. Marken betroffen?
Um hier etwas Licht ins Dunkel zu bringen, haben wir Fachanwalt Jannis Staudt von der Kanzlei Staudt Rechtsanwälte zu den aktuellen Entwicklungen befragt.
CamperStyle: Was hat der Europäische Gerichtshof da eigentlich entschieden?
Jannis Staudt: In seinem Urteil vom März 2023 ging es vor allem um die Frage, ob Automobilhersteller gegenüber Kunden auch dann zu Schadensersatz verpflichtet sind, wenn sie unzulässige Abschalteinrichtungen gar nicht in „böser Absicht“, sondern nur aus Unachtsamkeit – also fahrlässig – in den Fahrzeugen verbaut haben.
Und die Entscheidung des EuGH war sehr deutlich: Hersteller haften gegenüber Kunden auch bei Fahrlässigkeit. Dieses Urteil verdient wirklich das Prädikat bahnbrechend.
CamperStyle: Kurz zum Verständnis: was ist eine Abschalteinrichtung?
Jannis Staudt: Es gibt viele verschiedene Abschalteinrichtungen, im Wesentlichen haben sie aber alle die gleiche Funktion: sie sorgen dafür, dass die Abgasreinigung heruntergefahren wird. Die Abgasreinigung ist erforderlich, damit das Fahrzeug die gesetzlichen Abgasgrenzwerte einhält. Ist sie deaktiviert, stößt das Fahrzeug also viel mehr Stickoxide und andere giftige Substanzen aus, als es eigentlich dürfte.
Den Automobilherstellern wird vorgeworfen, die Abschalteinrichtungen bewusst so eingesetzt zu haben, um die Zulassungsbehörden zu täuschen und sich die Zulassungen für die – eigentlich viel dreckigeren – Fahrzeuge zu erschleichen.
CamperStyle: Ging es jetzt vor dem EuGH um eine spezielle Abschalteinrichtung?
Jannis Staudt: Ja, um das sogenannte Thermofenster. Thermofenster sind temperaturgesteuerte Abschalteinrichtungen, welche die Abgasreinigung nur bei bestimmten Außentemperaturen aktivieren. „Zufälligerweise“ herrschten diese Temperaturen immer beim Abgastest im Labor.
Im realen Betrieb auf der Straße war die Abgasreinigung dagegen die meiste Zeit nicht in Betrieb und das Fahrzeug entsprach folglich nicht den gesetzlichen Grenzwerten. Die Automobilhersteller haben bislang argumentiert, dass Thermofenster für den Schutz des Motors notwendig sind. Dieser Auffassung ist der EuGH in einem Urteil vom Juli 2022 allerdings nicht gefolgt und hat Thermofenster pauschal als illegal eingestuft.
CamperStyle: Aber im Wohnmobil Dieselskandal ging es doch vor allem um andere Abschalteinrichtungen, wie zum Beispiel die Timer-Funktion. Was hat das Thermofenster mit Fiat Ducato-Motoren zu tun?
Jannis Staudt: Die bisherigen Vorwürfe gegen Fiat haben sich vor allem auf die Timer-Funktion erstreckt, also jene Abschalteinrichtung, welche die Abgasreinigung nach 22 Minuten deaktiviert – so war sichergestellt, dass das Fahrzeug während des 20-minütigen Tests im Labor sauber war. Allerdings sind Thermofenster de facto in jedem Diesel-Fahrzeug aller Hersteller verbaut, auch in Fiat Ducato-Motoren.
CamperStyle: Und jetzt ging es vor dem EuGH also um die Frage, ob ein Hersteller auch dann haftet, wenn er dieses Thermofenster ohne Betrugsabsicht im Motor verbaut hat? Man ist ja angeblich davon ausgegangen, dass Thermofenster für den Motorschutz notwendig sind.
Jannis Staudt: Die Frage nach der Betrugsabsicht war für den Bundesgerichtshof (BGH) entscheidend. Und folglich für alle anderen damit befassten deutschen Gerichte. Konnte dieses, im Juristendeutsch sogenannte „vorsätzlich sittenwidrige Verhalten“ nicht nachgewiesen werden, gab es auch keinen Schadensersatz. Im Volkswagen Abgasskandal bestand diese Schwierigkeit nicht, hier hat VW den Betrug schließlich öffentlich gestanden. In allen anderen Fällen war es schwer bis unmöglich, diese Betrugsabsicht nachzuweisen.
Im Falle von Fiat gab und gibt es aber eine ganze Reihe von schwerwiegenden Indizien für einen systematischen Betrug: Die Staatsanwaltschaft Frankfurt ermittelt wegen Betrugs gegen Fiat Mitarbeiter, in den USA ist wegen der Verschwörung zum Betrug ein Strafverfahren anhängig und ebenfalls in den USA ist Fiat zu einer horrenden Strafe verpflichtet worden.
Hinzu kommt, dass Fiat in den bisherigen Verfahren die Vorwürfe im Wesentlichen nicht bestritten hat – und nach der Zivilprozessordnung gilt der Vorwurf dann als zugestanden. Die Diesel-müden deutschen Gerichte haben dies bisher aber alles nicht zählen lassen und haben Klagen tendenziell pauschal abgewiesen. Der Dieselskandal be- und überlastet die Gerichte nun schon seit 2015.
CamperStyle: Und diese ganze Problematik des Nachweises spielt jetzt keine Rolle mehr?
Jannis Staudt: Nicht ganz. Auch Fahrlässigkeit muss dem Hersteller nachgewiesen werden, allerdings ist dieser Beweis sehr viel leichter zu führen. Der EuGH hat die Anforderungen für eine erfolgreiche Schadensersatz-Klage also massiv herabgesetzt. Es ist nun davon auszugehen, dass eine nie gesehene Welle an Schadensersatz-Klagen über alle Automobilhersteller hereinbrechen wird, auch über Fiat. Wie sich alles ganz konkret ausgestalten wird, wird sich erst im Mai zeigen, wenn sich der BGH zum Urteil des EuGH äußert.
CamperStyle: Das bedeutet also, dass der EuGH gar nicht das letzte Wort gesprochen hat?
Jannis Staudt: Bei der grundsätzlichen Schadensersatz-Pflicht bei Fahrlässigkeit wird es definitiv bleiben, hier ist der BGH an die Entscheidung aus Luxemburg gebunden. Allerdings wird der BGH noch definieren, wie die EuGH Entscheidung konkret im deutschen Recht umgesetzt werden muss.
Entsprechend sollte man mit der Klageeinreichung noch abwarten, bis der BGH sich im Mai geäußert hat. So ist unter anderem noch nicht klar, welche Anforderungen an den Beweis der Fahrlässigkeit zu stellen sind und wie die Höhe des Schadensersatzes nach der neuen Rechtslage zu berechnen ist.
Der EuGH hat zur Höhe des Schadensersatzes allerdings die Leitlinie ausgegeben, dass dieser wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müsse. Betroffene Verbraucher können hier also mit einem signifikanten Betrag rechnen. Bei den bisherigen Diesel-Klagen betrug der Schadensersatz ca. 20 bis 25% des Kaufpreises.
CamperStyle: Sind nun sehr viel mehr Wohnmobile betroffen als ursprünglich angenommen?
Jannis Staudt: Davon ist auszugehen. Grundsätzlich ist jetzt jeder Motor mit Thermofenster vom Dieselskandal betroffen. Und das sind, wie gesagt, die allermeisten Diesel auf den Straßen, es handelt sich in Deutschland um bis zu 10 Millionen Fahrzeuge.
Allerdings ist auch hier ein wenig Abwarten angesagt: sich voreilig in Klagen zu stürzen, kann letztlich zur Folge haben, dass man am Ende leer ausgeht. Die gerichtliche Aufarbeitung des Wohnmobil-Dieselskandals wird sich mindestens noch über die nächsten eineinhalb Jahre hinziehen, bis dahin werden auch zu anderen Herstellern neue Erkenntnisse ans Licht kommen. Nach 2024 könnte dann tatsächlich die Verjährung drohen.
CamperStyle: Vielen Dank für diese Informationen – dürfen wir uns nach der Entscheidung des BGH im Mai nochmal für ein Update melden?
Jannis Staudt: Sehr gerne.
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